Status von Weblogs 2008
Sucht man bei Google nach sterbenden Weblogs, dann findet man seit einiger Zeit wieder mehr als 16 Millionen weise Propheten. Ein Wired-Artikel nimmt sich dem Thema an und deklassiert Blogs für neuer Micro-Lösungen wie Twitter. Good Stuff.
Ich verweise hier mal auf einen alten Text mit dem Titel Re-re-re-reblog, der meine Haltung zum Thema schon vor ganz langer Zeit formlierte. 99,9% aller Twittermeldungen sind völlig auswechselbar, substanzlos, YouTube-Links, Kaffeesatzbeschreibungen kurzum nicht lesenswert. Jedoch stellten diese Inhalte auch zu Hochzeiten der Weblogs die große Masse aller Inhalte dar. Wenn man darin wirklich den Wert einer Veröffentlichung fest machen möchte, dann stimme ich der gewagten These sterbender Weblogs zu. Nur wer wird diesen eine Träne nachheulen? Ich nicht.
Wer 2002 seinen Blog auf Links aufgebaut hat, der springt sicher 2008 auf den Twitter-Zug auf. Wer 2002 seinen Blog auf wahren Inhalt aufgebaut hat und damit populär wurde (A-List-Weblogs) der findet 2008 nur noch Trolle in der aktiven Leserschaft. Das Calacanis-Syndrom: ein A-List-Blogger, der so enorm polarisiert, dass der Inhalt seinen Blogs völlig belanglos wurde und nur als Plattform für Anfeindungen in den Kommentaren diente. Seitdem Calacanis eine Mailing-Liste führt, sind die Texte wieder mehr als pure YouTube-Links geworden. Wir nennen sowas einen Niveau-Filter. Inhaltlich sind es seine 2002er Weblog-Einträge. Nur die Plattform hat sich verändert. Inhatlich bleibt alles beim Alten und genau hier findet sich der kleine Unterschied.
Wer 2008 Twitter inhaltlich mit Weblogs vor 4 oder 6 Jahren gleichsetzt, der hat damals schon nur Schrott gelesen. Man suche mal eine wirklich relevante Twitter-Nachricht der letzten 2 Jahre. Anschließend suche man eine wirklich relevante Weblog-Einträge der letzten 2 Jahre. Wer nun beides miteinander vergleicht, sollte im besten Fall den wahren Wert beider Formate sehen.
Während man vielleicht die Masse an Bloginhalten schrumpfen sieht, so sieht man endlich wieder die Qualität steigen. Die „fetten“ Jahre für Weblogs bestanden aus Suchmaschinen optimierten Wahnsinn, der dominiert wurde von wieder und wieder recycelten Inhalten, meist bestehend aus nur einem Link. Sofern dieses Fett vom wahren Kern getrennt und ins Microblog-Lager ausgewiesen wird, dann sollte man sich nur freuen. Die Beatels unter den Blogs spielen weiter, einzig die Britney Spears der letzten 4 Jahre twittern nur noch.
you fucking anonymous piece of shit
Calacanis wird seine eMail-Liste wieder zum Blog formen, wenn irgendwann einmal das Problem der Anonymität gelöst ist. OpenID war hier einmal die große Hoffnung, die mittlerweile jedoch lange verflogen ist. Bekommt man hier irgendwann mal eine vernünftige Lösung, kehrt auch die A-Liste wieder ganz schnell zurück in ihre alte Umgebung. Twitter löst dieses Problem sehr effizient. Es bietet praktisch ein stilles Feedback in Form der Follower-Liste. Würde RSS diese Transparenz bieten, wären wir einen ganzen Schritt weiter.
Downtime
Blogs erleben momentan eine Phase der Regeneration und müssen sich wohl oder übel für die Masse neu erfinden. Wer wie ich jenes Format für mehr nutzt als pure Link-Listen, der wird auch diese Phase weiter aktiv gestalten. Keine Frage, ich kann das „Wieso“ zu Twitter, Facebook und Co. definitiv nachvollziehen, nur sehe ich auch definitiv mehr als das Pro. Twitter ist was Blogger mal war. Eine Phase, eine Plattform, aber keine eigenständige und unabhängige Lösung, etwas was guter Inhalt immer als Vorrausetzung braucht. Es kann kein Ersatz sein, wer davon überzeugt ist, hatte nie wirklich was zu berichten, außer dem wöchentlich Link, der vom Schwippschwager per eMail im Büro landete.
Schon die Überschrift im Wired-Artikel definiert wie abwegig der Ansatz eines bedeutungslosen Blogformats ist. Guter Inhalt ist zeitlos und völlig unabhängig von seiner Form und/oder Plattform. 140 Zeichen lange Texte dürfte es schwer fallen, ihre Haltbarkeitszeit zu erreichen. Hat irgendjemand ein Beispiel für eine Twitter-Nachricht, die er noch in einigen Jahren für lesenswert hält? Wieviel Sorgfalt lässt sich wohl in einen Microblog quetschen?
Format missverstanden
Eines jedoch muss man am Wired-Artikel loben. Das Format Weblog ist von jenen dominiert, die das Format nun kommerziell für sich missbrauchen. Eine völlig antike Website, wird schon damit hipp, cool und trendy, wenn sie sich nur Weblog nennt. So ziemlich jedes Zeitungs- oder Magazinformat hat in den letzten 3 Jahren Weblogs ihrer Redakteure integriert. Früher nannte man sowas Kolumne, heute wird es ganz neumodern zum Weblog und verunglimpft somit das ursprüngliche Format. Hier geht es nicht darum, mit den Lesern zu kommunizieren, sondern nur um den Einsatz als Lockmittel.
Facebook, Twitter und Co. sind in sich geschlossene Plattformen, deren Manipulation schwieriger ist, als eine Suchmaschinenoptimierung. Hier war irgendwann der Punkt erreicht, als der Inhalt hinter die Google-Platzierung rückte. Man veröffentlichte nicht mehr für Leser, sondern für Klicks. Wahrscheinlich braucht es erst ein völlig neues Finanzierungssystem, um diesem Kreislauf zu entkommen.
Nichts zu vergessen sei hier auch der Mainstream-Aspekt. Die Hardcore-Geeks, denen es nie um den Inhalt, sondern nur um die Sache an sich ging, verachten alles, was auch nur ansatzweise nach Mainstream riecht. Die Nische ist ihr liebgewonnener Lebensraum, den es niemals zu verlassen gilt. Twitter ist diese neue Nische und Blogs sind der böse, kommerzielle Sell-Out. Boo-hoo.
Ich freue mich schon auf den kommenden Artikel mit der Überschrift „GenericApplicationName-X makes Twitter so 2008“. Zeitgeist.
5 Kommentare
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global $hemingway ?>Schönes Urteil. Danke. Wird verlinkt werden. In einem Blogartikel. Von mir.
Eines muss ich aber – wo die Journaille schon meine Brötchen bezahlt – zur Verteidigung von Weblogs durch Verlags-Seiten sagen: Weblogs dort haben natürlich nichts mit dem zu tun, was wir als Kulturtechnik etabliert haben und weiterentwickeln. Aber sie sind für große Redaktionen mit großen Redaktionssystemen eine Möglichkeit aus den üblichen (Ressort/Textgattung/Layout) Strukturen auszubrechen und etwas auszuprobieren.
Verlage nutzen Weblog-CMSe als Sandkästen. Leider aber auch das nichteinmal mit dem Mut, den viele Blogger und Blogdesigner haben.
So aus reiner Neugier zu diesen „Sandkästen“: alles was dort erscheint durchläuft vor Veröffentlichung doch sicher die üblichen Filter? Keine Frage diese Sandkästen sind eine Bereicherung, nur irgendwie ein Sandkasten mit Stacheldraht, der das Spielen dann doch immer irgendwie einschränkt 😉
Nope. Die meisten Autoren in den Blogs von zeit.de publizieren selbsständig und ohne vorherige Kontrolle. Ein Teil der Blogger sind natürlich ohnehin Mitglieder der Redaktion, die anderen sind aber allesamt von der Redaktion ausgewählt.
Manueller Trackback
Ich muss ben_ recht geben: Ich bin ZEIT-Blogger für das Bundesliga-Blog und ich kann praktisch tun und lassen, was ich will. In den ersten Wochen bloggte ich auf Probe (weil ich Außenstehender bin und kein ZEIT-Redakteur), sprich: meine Texte wurden gesichtet und dann freigegeben, jetzt aber kann ich wie in einem eigenen Blog schreiben und direkt posten. Mir hat von der ZEIT aus auch noch nie jemand reingeredet. Was die ZEIT betrifft kann ich nur sagen: Angenehmer geht es nicht 🙂